Eine obskure Fliehkraft, die Satelliten am Himmel hält?

Wann immer ich Aufsätze zum Thema „Warum bleibt ein Satellit im Orbit“ sehe, werde ich hellhörig, denn in beinahe jedem findet man den gleichen Fehler in der Erklärung. Zwei Beispiele:

„Der Satellit bleibt nur dann auf einer stationären Kreisbahn um die Erde, wenn sich Gravitationskraft und Fliehkraft die Waage halten[…]“

CQ DL 12/19, Seite 13

„Für die Satellitenbahn gilt, dass die Anziehungskraft der Erde (Zentripetalkraft) exakt durch die Fliehkraft (Zentrifugalkraft) aufgehoben wird:“

Wikipediaeintrag für „Geostationärer Satellit“, abgerufen am 26.2.2010

Denken wir diese Aussage einmal konsequent zu Ende: Es gibt die zum Erdmittelpunkt gerichtete Gravitationskraft und die entgegengesetzt gerichtete Fliehkraft. Beide Kräfte sollen sich ausgleichen, der Satellit wäre damit kräftefrei. Nach dem ersten Newtonschen Gesetz würde sich der Satellit damit aber keinesfalls auf einer stabilen Kreisbahn, sondern vielmehr geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Jack Swigert würde rufen: „Houston, wir haben ein Problem“ und mit allem, was eben noch im Erdorbit kreiste, in die Tiefe des Weltalls entschwinden …

Aber was ist jetzt der Fehler, oder wie müsste es richtig beschrieben werden? Um sich dem anzunähern, muss man sich etwas mit den Grundlagen der Newtonschen Mechanik befassen. Um physikalische Vorgänge zu beschreiben, muss man sie in einem bestimmten Rahmen setzen. Man benötigt ein Bezugssystem. Die Gesetze der Newtonschen Mechanik sind aber nur in bestimmten Bezugssystemen gültig, in so genannten Inertialsystemen. Das sind ruhende oder sich gleichförmig bewegende Bezugssysteme.

Ein Beispiel: Wir beobachten von außen ein Auto, das eine Vollbremsung vollzieht. Hier ist die Physik klar: Über Bremsen und Reifen wird eine verzögernde Kraft auf das Fahrzeug ausgeübt. Es wird abgebremst, was physikalisch nichts anderes als eine Beschleunigung entgegengesetzt zur Fahrtrichtung ist. Der Fahrer und alles was sich sonst im Auto befindet und nicht fest mit diesem verbunden ist, wird sich aber aufgrund seiner Trägheit weiter mit der Ursprungsgeschwindigkeit des Autos bewegen, bis es auf Vordersitz, Frontscheibe oder ähnliches trifft oder im Fall des Fahrers hoffentlich vom Sicherheitsgurt gehalten wird und dadurch ebenfalls eine abbremsende Kraft erfährt.

Nun sitzt der Beobachter selbst im Auto. In dem Moment, in dem die Bremse getreten wird, beobachtet er, wie plötzlich Dinge nach vorne fliegen, die eben noch auf dem Sitz lagen. Er selbst spürt eine Kraft, die ihn in den Sicherheitsgurt drückt. Hier erkennen wir den Widerspruch: Physikalisch existiert nur eine verzögernde Kraft, ausgelöst durch die Bremsen, so wie es der Beobachter im äußeren Inertialsystem beobachtet. Der Beobachter im Auto spürt jedoch eine Kraft, die ihn und alles, was sich mit ihm im Auto befindet, nach vorne beschleunigt. Diese Kraft ist für den Beobachter überaus real! Der Grund für diesen Widerspruch ist, dass sich das Bezugssystem dieses Beobachters nicht gleichförmig bewegt, sondern beschleunigt ist. Die Gesetze der Physik, wie Newton sie formuliert hat, gelten hier nicht.

Um dennoch mit ihnen arbeiten zu können, muss man zusätzliche Kräfte annehmen, die so genannten Schein- oder Trägheitskräfte. Sie sind immer entgegengesetzt zur Beschleunigung des Bezugssystems gerichtet. Auch eine Kreisbewegung ist eine beschleunigte Bewegung, wobei die Beschleunigung zum Zentrum des Kreises gerichtet ist. Man nennt diese Beschleunigung Radialbeschleunigung. Sie ist von der Winkelgeschwindigkeit  \omega und dem Radius \vec{r} des Kreises abhängig: \vec{a} = - \omega^2 \vec{r} Wenn es sich aber um eine beschleunigte Bewegung handelt, wird ein Beobachter, der sich mit auf der Kreisbahn bewegt, wieder eine Scheinkraft verspüren, die der Radialbeschleunigung entgegen gesetzt ist, also nach außen zeigt. Diese Kraft nennt man Flieh- oder Zentrifugalkraft. Stellen Sie sich ein Kind auf einem Kettenkarussell vor. Es erlebt, wie es durch die Fliehkraft mitsamt Sitz nach außen geschleudert wird.

Man spricht dabei übrigens von einem rotierenden Bezugssystem, in dem neben der Fliehkraft noch eine weitere Scheinkraft auftritt, die so genannte Corioliskraft. Mit ihrer Hilfe kann ein Beobachter auf der Erde z.B. erklären, warum sich Tiefdruckgebiete auf der Nordhalbkugel immer links herum drehen.

Aber kommen wir wieder zu unserem Satelliten zurück. Wie beschreibt man dessen Bewegung jetzt physikalisch korrekt? Der einfachste Ansatz für einen geostationären Satelliten geht tatsächlich von einem Beobachter aus, der sich in einem Bezugssystem befindet, das fest mit der Erde verbunden ist, also gemeinsam mit dieser rotiert. Stellen Sie sich dazu einfach vor, sie liegen auf der Erde und schauen gen Himmel. Das besondere eines geostationären Satelliten ist, dass er in diesem Bezugssystem stets an der gleichen Position bleibt. Für unseren auf der Erde liegenden Beobachter bleibt er stets an der gleichen Stelle am Himmel und wir müssen unsere Fernseh-Satellitenantenne auch während eines Länderspiels mit Verlängerung und Elfmeterschießen nicht nachführen, ja auch ein halbes Jahr später zeigt sie immer noch in die richtige Richtung. Der Satellit verharrt in unserem Bezugssystem also an einer Stelle, d.h. er ruht.

Nach dem ersten Newtonschen Gesetz müsste der Satellit also kräftefrei sein. Da wir es jetzt mit einem rotierenden Bezugssystem zu tun haben, müssen wir neben der Schwerkraft auch die Fliehkraft berücksichtigen, damit wir die Newtonschen Gesetze überhaupt anwenden können. Und nun haben wir alle Zutaten aus dem oft gelesenem Ansatz: Schwerkraft und Fliehkraft, die sich aufheben und ein kräftefreier Satellit. Allerdings – und das ist der große Unterschied – bewegt sich der Satellit in unserem Bezugssystem nicht auf einer Kreisbahn, sondern ruht im rotierenden Bezugssystem!

Die in dem Gleichungen, die unter anderem in den oben genannten Artikeln aus dem falschen Ansatz abgeleitet werden sind also vollkommen richtig. Lediglich das physikalische Bild, das dahinter steckt ist falsch: Der Satellit bleibt nicht auf einer stabilen Kreisbahn, weil sich die auf ihn wirkenden Kräfte aufheben würden. Das ist physikalisch falsch!

Bleibt noch die Frage, wie die Bewegung des Satelliten in einem Inertialsystem beschrieben werden kann? Dazu müssen wir uns daran erinnern, dass sich eine Kreisbewegung durch eine ständige Beschleunigung zum Zentrum des Kreises auszeichnet. Um diese Beschleunigung zu erreichen, muss ständig eine Kraft auf den Satelliten ausgeübt werden. Für diese so genannte Zentripetalkraft gilt wieder \vec{F_Z} = - m\omega^2\vec{r} Die Zentripetalkraft entspricht vom Betrage her der Zentrifugalkraft, die der Beobachter im rotierenden Bezugssystem erlebt, ist aber nach innen gerichtet. Im Weltraum kann es für diese Kraft nur eine Ursache geben: die Gravitationswirkung der Erdmasse, die auch schon im vorherigen Ansatz auftauchte. Auch hier muss man wieder beide Terme gleichsetzen und kommt auf die gleiche Lösung, wie beim Ansatz mit dem rotierenden Bezugssystem. Der Unterschied zum vorherigen Ansatz liegt wieder im physikalischen Bild, das dem zugrunde liegt. Die beiden Kräfte werden nicht gleichgesetzt, weil sie sich gegenseitig aufheben sollen, sondern weil sie miteinander identifiziert werden. Die Schwerkraft ist die Radialkraft der Kreisbewegung. Die Ansätze sind zwar unterschiedlich, die Ergebnisse unterscheiden sich aber nicht. Das muss aber auch so sein, schließlich wird der gleiche physikalische Sachverhalt beschrieben, nur von verschiedenen Positionen aus beobachtet.

Dem Laien mag es wie das Spalten von Haaren vor- kommen, liefert die Ansätze am Ende doch das richtige Ergebnis. Aber letztlich ist das richtige physikalische Bild für das Verständnis der Himmelsmechanik eines geostationären Satelliten viel wichtiger als die richtige Gleichung für die Bahnhöhe. Und dieses physikalische Bild ist nicht nur in den beiden oben genannten Artikeln, sondern in vielen Artikeln falsch.

Eine löbliche Ausnahme bildet z.B. das Lehrwerk von von Manfred Bormann, der an der Ruhr-Uni Bochum Fachdidaktik der Physik gelehrt hat. Er schreibt u.a.:

„Es sei aber nochmals hervorgehoben, dass der Begriff der Zentrifugalkraft nur im Zusammenhang mit rotierenden Bezugssystemen eine physikalische Bedeutung hat. Für einen Beobachter in einem Inertialsystem existiert keine Zentrifugalkraft […] Die Kreisbewegung unterliegt hier allein der Bewegungsgleichung \vec{F_R} = -m\omega^2\vec{r} wobei die Radialkraft aus der Wechselwirkung zwischen Körpern hervorgeht.“

Manfred Bormann, Experimentalphysik, Band 1/a, 8. Auflage, Bochum 1991

Dieser Beitrag wurde in leicht abgewandelter Form auch als Reaktion auf den oben genannten CQ DL- Artikel im CQ DL 02/2020 veröffentlicht.

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